Teestunde

Teestunde in Schwabing

Ein samstäglicher Nachmittag unter der größten Privatsammlung Münchens.

MÜNCHEN/rtb Die Adresse hatte ich, wie einige andere, von Verwandten zugesteckt bekommen. Wenn meine Zeit es erlauben würde, sollte ich alte Freunde der Familie in München besuchen. Ein passender Zeitvertreib für einen jungen Mann, der in die bayrische Hauptstadt geschickt wurde, um seine Ausbildung zu vervollständigen, meinte zumindest eine meiner älteren Tanten.

Der Oktober war in sonnigen Tagen vergangen, fortan rissen die Novemberstürme am Laub der Bäume des englischen Gartens. Zeit, um an den Wochenenden die Liste abzuarbeiten. Pensionäre, Rentiers, ein paar Freunde der Familie, die es nach Bayern gezogen hatte. Die Wetterprognose von Bayern 3 rechnete mit einem naßkalten Wochenende, was sowohl gegen die Berge als auch einen Ausflug zu einem der Seen sprach. In zwei Wochen würde es für drei Tage an den Tegernsee gehen, doch an diesem Wochenende wollte ich in der Stadt bleiben.

Das Telefon läutete lange, bevor schließlich abgenommen wurde. „Hier G…….“ Ich nannte meinen Namen und richtete die mir aufgetragen Grüße aus. Herr G… schwieg eine Weile. Dann fragte er, wie es meinen Vater ginge. Nach einer floskelhaften Antwort berichtete ich ihm einige Neuigkeiten aus meiner Heimatstadt. Er stellte einige Detailfragen nach der alten Wirkungsstätte seines Vaters, nach dem Befinden einiger Kollegen und Weggefährten. Wie Bekannte, die einander lange Zeit nicht gesprochen hatten, verfielen wir beinah in eine Plauderei. Schließlich wollte er wissen, was mich nach München geführt hätte, und auf meine Antwort hin schloß er, daß ich mutmaßlich noch recht fremd in der Stadt wäre. Ob ich daher am kommenden Samstag eine Einladung zum Tee eventuell nicht ausschlagen würde, wenn meine Zeit es zuließe und ich keine anderweitigen Planungen für den Nachmittag hätte? Um dreiviertel vier  würde er sich freuen, mich begrüßen zu dürfen. Er nannte die Adresse und beschrieb den Weg zu dem Eingang des Komplexes, wo ich läuten solle.

Nach ein paar Stunden im Waschsalon vertrieb ich mir die Mittagszeit bis zur Teestunde in den Pinakotheken. Da ich vorgewarnt war, einen ausgewiesenen Kunstliebhaber zu treffen, wollte ich mich in der Nähe der großen Werke auf dieses Treffen vorbereiten. Noch in D… hatte Herr K… gesagt, daß G… einen Schatz hüte, dessen Umfang und Qualität zumindest rar, wenn nicht unvergleichlich sei.
„Frage ihn besser nicht danach, mach dir lieber ein eigenes Bild.“ lautete der Rat aus der rheinischen Heimat, der allerdings seiner Qualität nach vom Fuße des Parnaß hätte stammen können. Mit etwas Fortune, und falls er mir vertrauen sollte, würde er den Hort seines Grals möglicherweise öffnen. Nur prima facie wirke der Hüter auf viele etwas wunderlich, oder vielmehr weltenfern. Er aber lebe für den Schatz.

Eine kleine Wohnung im feineren Teil Schwabings. Angefüllt mit gerade so viel Kunst und Antiquitäten, wie man es in diesem Teil der Stadt erwarten durfte. Ein wenig muffige Luft, wie man sie bei älteren Junggesellen oft antrifft. Dieser Odeur des nicht genug Gelüfteten, das erst nach Jahren in den Geruch alter Wohnungen und ihrer alten Bewohner übergeht. Noch war diese Luft nicht so weit. Alles strahlte adrett, sauber, staubfrei, sprach von Sorgfalt und Hingabe des Hausherrn, der soeben mit einem Tablett hereinkam, auf dem eine königlich-preußische Porzellankanne voll wunderbar elegant duftendem Darjeeling neben zwei chinesisch feinwandigen Teetassen und einer Gebäckschale aus St. Petersburg stand. Darin lag das mitgebrachte Gebäck, das ich noch am Freitag in einer der beiden exquisiten Konditoreien Münchens erworben hatte.

„Ich hätte erwartet, daß Sie etwas von H… aus D … mitgebracht hätten und keine bajuvarischen Bisquits.“ G… setzt das Lächeln eines feinen Herrn auf. Beinahe verliert sich diese Spitze im großbürgerlichen Ambiente. Über dem Sofa hängt ein Ölgemälde von einer Qualität, die es in einem Haus von internationaler Bedeutung zu einem der Hauptwerke der Dauerausstellung gemacht hätten. Kadriert von unzähligen Handgrafiken und Drucken. Ohne den vorherigen Besuch der beiden Museen wäre der Eindruck, den hier diese Petersburger Hängung auf mich machte, noch observabeler gewesen, denke ich im stillen. Wir plaudern einige Zeit über Theater und Kino, streifen die Literatur und kommen schlußendlich zu den bildenen Künsten. Die Präzision seiner Fragen zu den Händlern in K… und D…, zur Leitung der Akademie und der führenden Häuser im Rheinland verschwimmt in dem angenehmen Timbre seiner Stimme. Über den Eintritt von H… in das Geschäft seines Vaters schmunzelt er höchst amüsiert. Wir sprechen über die Moderne in den Bildenen Künsten, die große Zeit vor dem tausendjährigen Terror. Die Zeit, als der Vater die gute Kunst vor den schlechten Menschen rettete. Die Zeit nach dem Krieg, als die Stadt D… in Deutschland zum Nabel der modernen Kunst wurde. D…, von wo aus der Kern der Sammlung der Alten Pinakothek nach München gekommen war – als Erbfolge gemäß eines Verdikts durch den Kaiser des Römischen Reiches. Die Plauderei wechselt zum Ausstellungskonzept des Museums, zu den Meisterwerken, die im Depot lagern oder andernorts im Freistaat. Die verborgenen Werke. Der Rest des Tees ist lange erkaltet, der Abend strahlt natriumgelb von den erflammenden Bogenlampen durch die Fenster herein.

Im Flur hängt ein Bild, das zwei Reiter zeigt. „Ein unbekannter L…?“ frage ich. G… strahlt, ob ich mich mit der Schaffensphase des Impressionisten auskennen würde. Meine Familie besaß zwei ähnliche Werke aus seiner Hand. G… lächelt wieder. Nach meinem Versprechen, Stillschweigen zu bewahren, öffnet er vom Flur aus eine der Türen. Nachdem alles heute so öffentlich wurde, erscheint mir heute dieses Versprechen von damals als obsolet. Es war der Hort.

Ein besonders hartnäckiger Danziger, erzählt G…, hatte über Jahre G…’s Mutter und ihre Kinder bedrängt, einige der Werke in einer der renommierten Vorstadtsammlungen öffentlich auszustellen oder zu übereignen, der er vorzustehen die Ehre hatte. Nonchalant nennt G… ihn einen wirklich enervierenden Menschen, in dessen Fall das Nomen in der Tat bereits Omen sei. Herr G… verabschiedet seinen Gast und ich trete hinaus in die Schwabinger Nacht. Drei bedeutende Sammlungen an einem Tag. Im Anschluß beginnt die Nacht nach dem Sonnabend im Café Reitschule. Die atmende, schnaufende, riechende, die bunte und düstergraue, die vibrierend lebendige, die laute und süffige, die wirkliche Welt nach den drei Mikrouniversen der Bildenden Kunst.